Der Drechsler aus Döttingen

Seltsam erging es einem Drechsler aus dem Dorf Döttingen. Der wollte einstmals im Burggraben einen Pfaffenkäppchenbaum umhauen. Doch er scheute sich, es bei Tag zu tun, der Leute wegen, denn jedermann wußte, daß an diesem Baum die Erlösung der Jungfrau hing. Aus seinem Holze, das an einem Karfreitag gehauen und ein Jahr lang getrocknet sein mußte, sollte ja die Wiege gezimmert werden können, in der das Sonntagskind auferzogen würde, dem allein einst die Erlösung der schönen Jungfrau gelinge. Also erzählten sich die Leute. Daher schlich sich der Drechsler nachts in den Burggraben und schlug ein solches Bäumchen um. Wie es umfiel, stand unversehens die weiße Jungfrau neben ihm. Entsetzt fuhr er zusammen. Sie aber redete ihn an: „Ehe ihr mit dem Bäumchen etwas vermögt, müßt Ihr drei Dinge tun. Bleibt ihr dabei fest, so habt Ihr nichts zu fürchten. Kommt am nächsten Sonntag wieder hierher, so sollt ihr die Proben erfahren.“

Der Drechsler war ein mutiger Mann. Am Sonntag gegen Abend stand er wieder an der Burg. Und da war auch schon die Schlossjungfrau neben ihm, und an der Schnur führte sie ihr schwarzes Hündlein mit dem roten Halsband.

Jetzt führte sie den Drechsler zu einem Tor in der Mauer, das er bisher nie bemerkt hatte. Sie nahm den klirrende Schlüsselbund und öffnete das Tor. Zuerst kamen sie in einen unterirdischen Gang. Gleichwohl schauten durch die gewaltige Wölbung die Sterne herein, was dem Drechsler unheimlich genug vorkam. Bald gelangten sie in einen großen Saal, den viele Hunderte von Kerzen erhellten. An den Wänden saßen uralte Männer und schliefen in Wehr und Waffen. An der Rückwand aber stand ein eichener Trog, auf den das Hündlein hinaufsprang. „Küsse dieses Hündlein“, gebot die Jungfrau. Der Drechsler tat’s, und das Hündlein leckte ihm zum Dank die Stirn. Jetzt schlugen die schlafenden Männer die Augen auf und lächelten freundlich. Doch da führte ihn die Jungfrau weiter in einen andern Saal. Der war voll schlafender Jünglinge und Jungfrauen. Die Jungfrauen glichen ganz der Schlossjungfrau, jedoch trugen sie keine Schlüsselbünde und hatten nicht ihre wunderbaren goldenen Haare. An der Rückwand stand wieder ein größerer Eichentrog. Auf diesen setzte sich die Jungfrau selber und sagte leise: „Küsse mich!“ Er tat’s freudig. Aber siehe da, ihre Lippen waren kalt wie Eis. Jetzt schlugen auch die Jünglinge und Jungfrauen die Augen auf und lächelten den Drechsler glückselig an. Die Schlossjungfrau sprang vom Troge, lobte den Drechsler und sprach ihm Mut zu. Dann geleitete sie ihn zu einem dritten Saale. Das war der schönste, und nicht Kerzen erhellten ihn, sondern ein wundersames, milchweißes Licht, das die Kinder beschien, die rings an den Wänden schlummerten. An der Rückwand aber stand wieder ein noch viel grösserer Eichentrog, und davor lag eine gewaltige Schlange zusammengerollt. Wie sich ihr der Mann näherte, richtete sie sich zischend auf und spie Feuer gegen ihn. Doch schritt er mutig über sie hinweg zum Eichentrog. Auf dem aber lag eine riesenhafte Laubkröte. Ihr Leib glich einer Bütte, ihre Augen waren wie Kaffeetassen, und ihr Leib schillerte in giftigen Farben. Gleichwohl nahm er sich zusammen und bückte sich, denn die Jungfrau bat: „Küsse sie!“ Doch als er nun das Gesicht fast auf ihrem stinkenden Munde hatte, erblickte er ihren ekelhaften gerissenen Rücken. Von Grausen ergriffen trat er einen Schritt zurück. Da ging ein Wimmern durch den Saal; die Kindlein erwachten nicht. Die Jungfrau aber rang die Hände, schrie laut auf, und im Augenblick war ihr weißes Kleid kohlschwarz geworden. Es wurde stockfinster und krachte in allen Mauern, als fiele die ganze Welt zusammen. Da ward der Drechsler ohnmächtig und sank nieder. Als er wieder zu sich kam, lag er vor der Burg in einem Fuchsloch mit schneeweißem Haar und Bart. Danach wurde er irrsinnig und stand jahrelang alltäglich an der Mauer und rief nach dem Schlossfräulein, aber er sah es nie und nimmermehr.

Einst lebte auch im Dorf zu Tegerfelden ein armer Müllersknecht aus dem Schwarzwald. Als nun die Dorfleute am Neujahr den Berchtoldstag wie vor alten Zeiten mit vieler Lustbarkeit feierten, wollte auch er in einem Tanzhause ein Mägdlein zum Tanz auffordern. Aber niemand wollte mit ihm tanzen. „Heut‘ tanzt man mit keinem Wäldler!“ riefen ihm die Mädchen zu. Das brachte ihn sehr auf, und er rief zornig: „Ei, so will ich euch mit einer Tänzerin kommen, wie hier noch nie eine gesessen ist!“ Und dann ging er davon. Und da er ein Sonntagskind war, lief er geradewegs zur Burgruine ob der Surb. Drei Weidenzweige warf er über die Schulter ins Wasser und klagte der Schlossjungfrau sein Leid und bat sie, ihm doch drei Tänze zu bewilligen, da kein irdisch Mädchen einen Tanz mit ihm tun wolle. Schlag elf wolle er sie wieder heimführen, und danach möge sie ihm auch drei Proben auferlegen.

Da stand die Jungfrau plötzlich neben ihm, nahm ihn an der Hand und sagte: „So komm!“

Willig folgte ihm nun die verwunschene Maid ins Tanzhaus nach Tegerfelden. Als sie eintraten, staunten alle die wunderschöne, weißgekleidete Jungfrau an der Hand des ärmlichen Müllerknechtes an, und vor lauter Respekt zogen die Burschen die Hüte ab. Da winkte die Jungfrau, die Musik zog los, und nun tanzte sie gar zierlich mit dem Knechtlein drei Tänze nacheinander, und alles Volk schaute ihnen voll Bewunderung zu.

Aber dann nahm sie den Burschen wieder an der Hand und ging lautlos mit ihm davon, in die Nacht hinaus.

Da ward es dem Müllerknecht doch bange, je näher er der Burg kam. Aber er fassste sich ein Herz und ließ sich von der Jungfrau ruhig in alle drei unterirdischen Säle führen. Als sie jedoch in den dritten Saal kamen, wo die Kindlein an den Wänden herum schliefen, rief die Jungfrau weinend: „Siehst du, so habe ich mich versündigt! Diese lieben Kindlein da sind mir nicht dem Leben erweckt worden. So zahlreich wie die Jünglinge und Jungfrauen im zweiten Saal wäre meine Nachkommenschaft sonst geworden, hätte ich einen der Greise im ersten Saal geheiratet, die alle meine Freier waren. Aber so groß war mein Stolz und meine Eitelkeit, das ich, im Einverständnis mit meinen herzlosen Eltern, keinen der vielen Ritter zum Manne annehmen wollte, der nicht die Probe bestünde, dreimal unsere Burg auf ihren gähen Felsen zu umreiten. Alle wagten es, und alle stürzten bei der grausen Probe zerschmettert in den Fluss. Einer aber war, der die Probe glänzend bestand. Dreimal ritt er auf seinem Pferde um die Burg und fiel doch nicht tot. Aber da er ein niederer Ritter war, schämte sich die Mutter des armseligen Freiers, und als sie ihm nun den Verlobungstrank reichte, mischte sie ein Kraut hinein, das ihn in Schlaf versenkte. Wie er aber schlief, ließ sie ihn heimlich über die Felsen der Burg zu Tode stürzen. Wie ich nun erwachte und es erfuhr, packte mich wilde Verzweiflung, denn gerade diesen hatte ich liebgewonnen, und an der gleichen Stelle, wo man ihn hinabgestürzt, sprang auch ich in die Tiefe und in den Tod. Zur Strafe muss ich nun hier die Hüterin der Opfer meines Übermutes sein. So hilf mir denn, sonst kann ich nicht selig werden. Küsse nun das Hündlein. Danach nimm allen diesen Mägdlein ein Haar vom Haupt, jedem Greise eines aus dem Bart und trage diese Haare hinaus in den Bach, bevor es zwölf schlägt. Eile, eile, denn wenn es im Dorfe Mitternacht schlägt, schließen sich die verwunschenen Tore wieder.“

Der Müllerknecht wagte alles. Obwohl sich das Hündlein in allerlei Gestalten verwandelte, küsste er’s doch. Er hob auch die Jungfrau auf den Eichentrog, obwohl sie sich schwer machte wie ein Berg, und küsste sie. Er zupfte den Mädchen und Greisen die Haare aus und trug sie raschen Fußes zum Bach. Es war aber auch höchste Zeit. Mitternacht war nahe. Nur noch zwei Bärte sind übrig, nur noch von diesen soll er zwei weiße Haare in die Surb werfen. Und gerade jagt er mit dem zweitletzten durchs dritte Eisentor zum Schlossberg hinaus, da schlägt’s in Tegerfelden zwölf Uhr, und donnernd fahren hinter ihm die Tore zu. Wie betäubt stand er da, aber die Tore blieben geschlossen, sooft er auch später auf den Berg kam. Eines Tages fand man ihn tot in der Mühle.

Nur noch einmal erschien die Jungfrau. Nämlich, als einst ein Tegerfelder vom Städtchen Waldshut her nach Hause ging, kam er in der Nacht nach Döttingen. Da wollte er den Weg kürzen und kam so an die Surb. Er dachte an nichts weiteres und sang ein Lied vor sich hin, denn ob ihm stand der sternenhelle Sommernachtshimmel.

Da klirrte und klingelte es mit einem Male gar seltsam in den Weidenstauden des Flüssleins. Und als er nun verwundert stehen blieb, stieg eine wunderschöne Jungfrau in wehenden weißen Gewändern, über die ihre goldenen Haare herabflossen, aus den Weiden und Erlen. An ihrem Gürtel hing das Schlüsselbund, und dabei steckte ein Strauss Weidenröschen. Jetzt griff sie ins Mieder und nahm ein silbernes Schwegelpfeifchen hervor, worauf sie so wunderbar spielte, dass der Mann zu weinen anfangen musste. Aber auch die Tiere des Feldes und des Waldes eilten herbei. Vom andern Ufer kam ein schneeweißer Edelhirsch durch die Surb geschwommen, und als er sich zu Füßen der Jungfrau niederließ, war ihm kein Härchen nass. Danach nahm sie eine doldenreiche Hopfenranke vom Strauch, legte sie ihm ums Geweih und knotete sie also, dass sie einen Zaum bildete. Dann brach sie einen Baldrianstengel als Reitgerte und ließ sich auf des Hirsches Rücken nieder. Sogleich erhob er sich und trug die Jungfrau leichten Schrittes den Schlossberg hinauf. Oben bog sie um den Turm, verschwand dann hinter dem Gemäuer, kam aber bald wieder zum Vorschein. Und nun ritt sie auf allen Trümmern und Felsenkanten rings ums Schloss. Neunzehnmal ritt sie so herum. Zuletzt aber jagte sie die gähen Felsen hinunter an den Bach. Der Hirsch ließ sich nieder, und die Reiterin stieg ab. Sie entzäumte ihn, zerbrach die Gerte und gab dem Hirsch einen leichten Schlag, worauf er blitzschnell verschwand. Jetzt setzte sie sich aufs Flussbord, mitten in die blühenden Weidenröslein, löste das Stirnband und begann ihre goldenen Haare mit einem goldenen Kamm zu strählen. So manchmal, als sie den Goldkamm durchs Haargelock zog, streifte sie von den tiefern Zweigen ihres Lieblingsbaumes den Erlenhonig ab und bestrich sich damit den Scheitel. Und immer wieder beschaute sie im mondhellen Wasser ihr wogendes Haar und maß, ob es nicht die Spitzen des Grases erreiche.

Der Mann aus Tegerfelden aber stand stumm und starr da, bezaubert von all der Herrlichkeit der schönen Jungfrau, und wagte kaum zu atmen, obwohl sie sich mehrmals nach ihm umsah und ihn mit den blauen Augen heranzuwinken schien. Endlich erhob sie sich langsam, schritt traurig, gesenkten Hauptes durch die Surb und sang:

„O Erli, liebi Erli!
Es goht no hundert Johr,
dann stricht den Boden währli
mis geles Chruselhoor.
Und lampet’s denn am Bode,
so find i mini Ruoh
und chan i Himmel grote
und du zuom Öfeli zuo!“
(O Erle, liebe Erle!
Es geht noch hundert Jahr,
dann streift den Boden wahrlich
mein gelbes krauses Haar.
Und hängt’s dann auf den Boden,
so find‘ ich meine Ruh‘,
kann in den Himmel kommen
und du dem Ofen zu.)

Da verschwand sie in der Nacht. Jetzt erst merkte der törichte Mann, dass er die Jungfrau hätte erlösen sollen und dass er dabei wohl das blitzende Stirnband, den Goldkamm und gar die silberne Schwegelpfeife hätte gewinnen können.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.

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